F O r u m m E D I z I N F O r u m m E D I z I N D E r b L a u E H E I N r I C H D E r b L a u E H E I N r I C H Auszug aus „Die Verwandelten“ von Ulrike Draesner, S. 178 ff., PenguinVerlag 2023, 608 Seiten, Hardcover 26 Euro, ausgewählt von Katja Evers Auszüge aus „Blaue Frau“ von Antje Rávik Strubel, S. 14 ff., S. Fischer Verlage, 432 Seiten, 24 Euro ausgewählt von Katja Evers Schwankige Welten Das Zimmer schwamm im Morgengrauen, ich hatte einen röhrenden Hunger, so sagt man nicht, so war es schlicht, manchmal fiel mir das richtige Wort nicht ein, das war das Alter, dachte ich, das durfte sein, und wusste, als ich es dachte: Ich bin wach, kopfklar, denn diese Gedanken kenne ich. Ich drückte den Knopf, man kam, gab mir Blutdruckpillen, doch nun andersherum: rauf statt runter, man fuhr mein Kopfteil spazieren, war stark verpackt. Handschuhhände stellten ein Brötchen neben mir ab, fast wunderte mich, dass es nicht auch eingeschweißt kam. Eine Weile starrte ich es an, war zu müde dafür, ein Streuselkuchen wäre mir lieber gewesen, am Bahnhof von Wroclaw wurde ich abgeholt, die Frauen von der Deutschen Gesellschaft hatten es organisiert, eine Tochter erschien, ein Enkel, ihnen sagte ich, Alissa gehe den Weg andersherum – Alissa, die so spät im Leben gefunden hatte, woher sie kam, geboren im ersten Heim des Lebensborns, dieses Wort konnte man nicht übersetzen, das konnte man nur VERGESSEN – gemeinsam verlachten wir es – aßen Kuchen, lehnten uns in die Stühle zurück, alte Frauen, schief angezogen, schiefgelaufen von den Jahrzehn- ten, über die Jahrtausendwende gestolpert – Schnee von gestern, Schnee. So oft war ich davongekommen, etwas drückte meine Hand, „Sie hängen am Tropf, Frau Schücking“, „falsch“, wollte ich sagen, „ich hänge am Leben“, die Ärztin, die ich bereits kannte, stand da, „engma- schig beobachten“, sie selbst drehte „das Morphium“ auf, ich lag in einem gelb gestreiften Feld, im Haus Hochland trösteten mich frische Laken, Fenster, noch als Erwachsene zog ich keine Jacke an, wenn alle froren, etwas in mir war durch- schnitten, die Leitungen gekappt, Lissl wurde Gerhild wurde Alissa, blieb Frau Schücking, wie sollte das zu verkraften sein – die ersten Bilder, die Hand zum Gruß in den Himmel gesteckt – sie will die Wolken berühren – ich wollte in den Arm genommen sein. „Frau Schücking“, sagt der Pfleger, sein Namensschild kann ich nicht lesen, die Maske verbirgt sein Gesicht, Handschuhe schüt teln die Decke, ich habe diesen Hunger aufgeschnappt, „bitte“, sage ich, „einen Kaffee, einen Cappuccino, ein Stück Streusel- kuchen, bitte, jetzt“. Meine Stimme krächzt schlimmer als gestern, doch meine Augen sehen klar, und ich funkele ihn an, so kräftig ich kann. Er sagt, er wolle sehen, was sich machen lässt, er rufe wohl mal meine Tochter an. Meine Hände zittern weiterhin von innen, nicht von außen, das kann er nicht wissen, wozu Kinga holen? Eben war es kurz nach Weihnachten, jetzt ist es das neue Jahr, ich fühle mich moosgrün – Kin- ga, werde ich sagen, es gibt eine Wohnung in Breslau, die kann deine Mutter dir jetzt anbieten –, diese Alissa, die ich heute Morgen mal stärker empfinde, mal verliere. Schwankige Welt. Ich mache die Augen zu, eine Minute, fünf Minuten, dann auf, für Sekunden. Die Gedanken schießen hoch wie fliegende Fische aus dem Meer und stürzen in es zurück. Kein Wunder, dass eine davon müde wird. Mir nichts, dir nichts ist der Pfleger zu zweit, sie flüstern etwas wie „sördsch“, muss ich das verstehen? Ich bin nicht bereit, mir meine Kaffeelust verhunzen zu lassen, sie muss ein erstklassiges Zeichen sein, ich krächze „Trinkgeld“, habe also alle Sinne beisammen, endlich sieht der Mann es ein und macht sich auf den Weg. ulrike Draesners Werk ist ein bewegender mütter-Töchter-roman über hun- dert Jahre europäischer Geschichte, über Frauen und Krieg, unterdrückte Erin- nerungen und die Folgen des Schweigens. „Die Verwandelten“ war in diesem Jahr nominiert für den Preis der Leipziger buchmesse. 40 H a m b u r G E r Ä r z T E b L a T T 0 9 | 2 0 2 3 Impressum Offizielles Mitteilungsorgan der Herausgeber Ärztekammer Hamburg und Kassenärztliche Vereinigung Hamburg Schriftleitung Für den Inhalt verantwortlich Prof. Dr. Sigrid Nikol PD Dr. Henrik Suttmann Redaktion Stephanie Hopf, M. A. (Leitung) Katja Evers, M. A. (Fr.) Karen Amme (Fr.) Korrektur: Birgit Hoyer (Fr.) Redaktion und Verlag Hamburger Ärzteverlag GmbH & Co KG Weidestrasse 122 b, 22083 Hamburg Telefon: 0 40 / 20 22 99-205 Fax: 0 40 / 20 22 99-400 E-Mail: verlag@aekhh.de Anzeigen elbbüro Stefanie Hoffmann Bismarckstrasse 2, 20259 Hamburg Telefon: 040 / 33 48 57 11 Fax: 040 / 33 48 57 14 E-Mail: anzeigen@elbbuero.com Internet: www.elbbuero.com Gültig ist die Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 2023 Anzeigenschluss Oktoberheft: Textteilanzeigen: 15. September 2023 Rubrikanzeigen: 20. September 2023 Abonnement Jährlich 69,98 Euro inkl. Versandkosten Kündigung acht Wochen zum Halbjahresende Geschäftsführer Donald Horn Mit Autorennamen gekennzeichnete Beiträge stellen nicht in jedem Falle die Meinung der Redaktion und der Schriftlei- tung dar. Für unverlangt eingesandte Manu- s kripte wird keine Haftung übernommen. Die Redaktion behält sich Kürzungen vor. Grafische Konzeption Michael von Hartz (Titelgestaltung) Redaktionsschluss für das Oktoberheft: 10. September 2023 Das nächste Heft erscheint am 10. Oktober 2023 Druck Frank Druck GmbH & Co. KG, Preetz Auflage: 20.844 0 9 9 0 7 0 2 2 - D I | R E