Tab. 1: Aspekte der Fatigue-Symptomatik affektiv kognitiv physisch • Motivationsverlust • Interessenreduktion • Antriebsverminderung • Angst • Resignation • Gereiztheit • Anspannung • Konzentrationsstörungen • Ablenkbarkeit • Reduktion der Aufmerk- samkeit • reduziertes Reaktionsver- mögen Reduktion der Leistungs- fähigkeit Schlafstörungen ungewohntes Schlafbe- dürfnis Kraftlosigkeit Energielosigkeit Tab. 2: Anamnesefragebogen AWMF-S3-Leitlinie Müdigkeit • Erfragen von Vorstellungen zur Ätiopathogenese des Syndroms • Abklärung der familiären, beruflichen und sonstigen sozialen Situationen • Abklärung von Depression, Ängsten und anderen psychiatrischen Störungen • somatische und vegetative Anamnese (kardial, pulmonal gastrointestinal, urogenital, neurologisch, BMI, Gewichtsveränderungen u. a.) • Labordiagnostik (Blutbild, Blutzucker, Blutsenkung/C-reaktives Protein, Transaminasen, TSH u. a.) • Schlafanamnese (Dauer, Kontinuität, Qualität, Rhythmus u. a.) • Medikamente (auch Selbstmedikation) und Substanzkonsum (Alkohol, Koffein u. a.) • Arbeits- und umweltbedingte Belastungen, Lärm, Schichtarbeit, Abgase, Schadstoffe Erschöpfung ist ein häufiges Beschwerdebild verbunden mit individuellem Leid und gro- ßer Bedeutung in Klinik und Praxis. Sie tritt als Symptom körperlicher und psychischer Erkrankungen auf, aber auch als eigenständi- ge Diagnose, besonders im Rahmen stressbe- dingter Störungen, mit Relevanz für die me- dizinische Versorgung und Gesellschaft. An der Entstehung beteiligt sind unterschiedli- che biologische, psychologische und psychoso- ziale, individuelle und institutionelle Faktoren. Neben der Therapie zugrunde liegender kör- perlicher Erkrankungen existieren vielfältige Interventionsmöglichkeiten auf biologischer und psychologischer Ebene, die kurz- wie langfristig gute Effekte zeigen können. Sie ha- ben eine große Bedeutung für die Prophylaxe. Schwerpunkte dieses Beitrags sind die patho- logische Erschöpfung als eigenständige Stö- rung im Rahmen von Überlastung und Stres- serkrankungen, die Entstehungsbedingungen und die Diagnostik, die Bewertung als Risi- kofaktor für die Entstehung somatischer und psychischer Erkrankungen und die Indikati- onsstellung therapeutischer Interventionen und prophylaktischer Maßnahmen. Vorkommen und Bedeutung Nicht nur aktuell im Rahmen der Corona- Pandemie, auch davor galt Erschöpfung als ein häufiges, den einzelnen Patienten stark beeinträchtigendes Syndrom (1). Die Be- griffe Erschöpfbarkeit, Ermüdung, Ermüd- barkeit, Müdigkeit und Fatigue werden oft synonym und nicht klar voneinander abge- grenzt verwendet. Ein breites Spektrum von Gesundheitsstörungen kann Erschöpfung bedingen, bei anhaltender Symptomatik stehen Depressionen (18,5 Prozent), Schlaf- störungen, psychosoziale Überlastungen und Stress im Vordergrund. In Deutschland reicht die Spannbreite der Bevölkerung, die sich regelmäßig erschöpft fühlt, je nach Studienmethodik und Altersgruppe von 20 Prozent bis etwa 60 Prozent (2). Laut einer Umfrage des Marburger Bunds im Jahr 2022 fühlen sich rund 91 Prozent der Klinikärz- tinnen und -ärzte durch ihre Arbeit regel- mäßig erschöpft (31 Prozent „immer“, 60 Prozent „zunehmend“). Akute Erschöpfung ist bei Gesunden kein per se pathologisches Symptom. Analog zu aku- ter Angst, die einen Schutzmechanismus für das Individuum darstellt, schützt akute Er- schöpfung vor Überlastung, Überforderung, Leerung der Energiespeicher und letztlich vor Erkrankung. Akute Erschöpfung ist eine Re- duktion der physischen und psychischen Leis- tungsfähigkeit, die in der Regel reversibel ist. Die physische Erschöpfung ist abhängig von Dauer und Intensität der Belastung im Ver- hältnis zum individuellen Trainingszustand. Die psychische Erschöpfung ist eine subjek- tive Empfindung, oft verbunden mit Ver- schlechterung der motorischen Koordination im Zusammenhang mit Funktionen der For- matio reticularis, einer Beeinträchtigung der Informationsaufnahme und Informations- verarbeitung (3). Erschöpfung wird dann pathologisch, wenn diese zu stark ausgeprägt ist, zu lange andau- ert, in keinem Verhältnis zu der gegebenen- falls vorausgegangenen Aktivität steht und sich nicht durch Schlaf bzw. Ruhe verbessert. Sie geht oft mit einer deutlichen Einschrän- kung der Lebensqualität einher (4). Erschöpfung ist häufig assoziiert mit Karzi- nomen und deren Therapie, mit immunolo- gischen (z. B. Mononukleose, rheumatischen Erkrankungen), neurologischen (z. B. Mul- tiple Sklerose, Apoplex, Morbus Parkinson) und endokrinologischen Erkrankungen (z. B. Hypothyreose, Eisenstoffwechsel, Cortison), Schlafstörungen sowie anderen chronischen Erkrankungen (5, 6). Ebenfalls ist Erschöp- fung ein häufiges Symptom psychiatrischer Erkrankungen wie Depressionen, chroni- sche Psychosen, Demenzen und Substanzge- brauchsstörungen (2). Definition chronische Das klinische Konzept von Erschöpfung (Fa- tigue) ist ein heterogenes Konstrukt mit min- destens zwei Dimensionen (6). Die Erschöpf- barkeit kognitiver und motorischer Prozesse lässt sich objektiv messen oder mittels Fremd- beurteilung dokumentieren. Für die subjekti- ve Wahrnehmung von Erschöpfung existie- ren verschiedene Selbstbeurteilungsskalen. Erschöpfung als Syndrom besteht aus emotio- nalen, kognitiven und körperlichen Aspekten (Tab. 1). Zur Abfrage dieser verschiedenen Symptome wurde in der AWMF-S3-Leitlinie Müdigkeit (1) ein Anamnesefragebogen als Leitfaden herausgegeben (Tab. 2). Das Erschöpfungssyndrom („chronic fatigue syndrome“, CFS) ist nach den Kriterien des amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) eine komplexe Störung, charakterisiert durch starke Erschöpfung, die für mindestens 6 Mo- nate anhält und nicht durch eine zugrunde liegende körperliche Erkrankung erklärbar ist. Die Erschöpfung verschlechtert sich bei körperlicher oder geistiger Anstrengung und verbessert sich nicht durch Ruhe oder Schlaf (7). In der International Classification of Di- seases (ICD-10) wird Erschöpfung (Fatigue) im Rahmen des Chronischen Müdigkeits- syndroms (CFS) (G93.3), des Burn-out-Syn- droms (Z73.0) oder der Neurasthenie (F48.0) diagnostiziert (Tab. 3, Seite 14). Die diagnostische Erfassung des Syndroms lässt sich bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zu Sir Richard Manningham zurückverfolgen (7). Etwa 100 Jahre später führte John Beard den Begriff der Neurasthenie für ein Syn- drom mit chronischer Erschöpfung, leichtem Fieber sowie diffusen Schmerzen ein und postulierte, dass diesem Syndrom ätiologisch subtile, nicht nachweisbare neurochemische Veränderungen zugrunde lägen, ähnlich wie der von Gottfried Ewald geprägte Begriff der nervösen Erschöpfung (7). In Anlehnung an diese Definitionen wurden von der WHO in 0 1 | 2 0 2 3 H A M B U R G E R Ä R Z T E B L A T T 13 e k h c s e n K t r e b o R – k c o t S e b o d A ©